Englischer Kanal – Gewitter, Strömungen & Delfine
Am Samstag, 3. Juli 2021 habe ich Biggi zum Amsterdamer Flughafen begleitet und weniger als eine Stunde nachdem sie hinter der Gepäckkontrolle verschwunden war kam Cynthia an. Optimales Timing! Wobei es natürlich schön gewesen wäre, wenn wir noch zu dritt hätten zusammensitzen können. Stattdessen bin ich mit Cynthia sofort zum Zug los. Biggi und ich hatten zwei Hin- & Rück-Fahrkarten gekauft, und so konnte Cynthia Biggi’s Rückfahrkarte direkt nutzen. Praktischerweise stand schon ein Zug nach „Amsterdam Z.“ am Gleis. Nix wie rein, denn das bedeutete sicherlich Zentral… Von wegen! Das hiess Amsterdam Zuid, was wir zum Glück erfuhren, als wir sicherheitshalber im Zug nachfragten – nichts wie raus bevor er abfährt! Centraal schreibt sich mit „C“ und nicht mit „Z“… „Centraal“ stand auf der Anzeigetafel für einen Zug, der in drei Minuten abfahren würde. Rolltreppe hoch und auf der anderen Seite wieder runter gespurtet und schon sassen wir wieder im Zug. Nur so als Sicherheit habe ich wieder einen Passagier gefragt, ob der Zug denn wirklich nach Amsterdam Centraal fahre? Er schaute uns ganz verdutzt an: „Ja, ja, das sei schon der Zug zum „Central“, aber nicht von Amsterdam, sondern von Rotterdam!“ Und wieder sprangen wir nur mit knapper Not aus dem Zug bevor er abgefahren ist… Zu guter Letzt haben wir dann doch den richtigen Zug erwischt – aber wenn das auf unsere mangelnden Navigationsfähigkeiten zurückzuführen war, na dann Prost Mahlzeit für den kommenden Törn…

Wir hatten vor, in den kommenden zwei Wochen von Amsterdam bis nach l’Aber Wrac’h in der Bretagne zu kommen. Eine Strecke von ca. 500 Seemeilen durch den Englischen Kanal. Die vorherrschende Windrichtung in diesem Teil der Welt ist Südwest – also genau von dort wo wir hin wollten. Dazu kommt, dass der Englische Kanal das am dichtesten befahrene Gewässer der Welt ist. Das Gebiet ist in Fahrbahnen und Sperrzonen mit klar geregelten Befahrensvorschriften eingeteilt und wird auch per Radar und AIS von den Behörden überwacht. Insbesondere die Meerenge zwischen Dover und Calais hat es in sich, dort verkehren zusätzlich auch noch Schnellfähren, die unseren Kurs kreuzen würden. Und um es noch ein Stückchen komplexer zu machen, gibt es hier alle 6 Stunden wechselnde Gezeitenströme mit bis zu 5 Knoten Geschwindigkeit und einen Tidenhub (Unterschied des Wasserstandes zwischen Hochwasser und Niedrigwasser) von mehreren Metern.

Kurzum – vor diesem Teil der Reise hatte ich gehörigen Respekt und war umso froher, eine kompetente Mitseglerin dabei zu haben. Cynthia ist schon vor Jahren mit mir gesegelt, als wir noch beide im IBM Segelclub waren. Mit mehreren Tausend Seemeilen Erfahrung wusste ich, dass ich mich auf sie verlassen konnte. Und sie war – im Gegensatz zu mir – hier schon einmal gesegelt.
Die Wettervorhersage versprach schwache westliche Winde und deshalb legten wir bereits um 6 Uhr am Sonntagmorgen ab. Von Amsterdam ging es zunächst durch den Kanal nach IJmuiden und dort wurden wir raus in die Nordsee geschleust. Wir wussten nicht, wie schnell wir unterwegs sein würden und hatten uns daher mehrere mögliche Zielhäfen entlang der Holländischen und Belgischen Küste ausgesucht. Es ging aber flott voran und wir entschieden, die Nacht durchzugehen, um möglichst weit zu kommen bevor der Wind am Dienstag wieder zunehmen würde. Zu dem Zeitpunkt wussten wir natürlich nicht, dass die Nacht und vor allem der nächste Morgen zum schlimmsten Törn der bisherigen Reise werden sollte.

Bis kurz vor Mitternacht war noch alles OK, aber dann tauchte in der Ferne ein Windpark auf, der nicht in der Karte verzeichnet war. (Wie ich später erfuhr, war der Windpark noch im Bau und daher noch nicht in der Karte drin.) Er lag genau in unserem Weg und erstreckte sich über eine Breite von geschätzt mehreren Seemeilen. Da er nicht mit roten Leuchten markiert war, wollte ich auf direktem Kurs durch. Gleichzeitig hat sich eine schwarze Regenwand direkt auf uns zu bewegt. Ich hoffte noch, ihr mit dem direkten Kurs durch den Windpark ausweichen zu können, als wir plötzlich über Kanal 16 auf dem Seefunkgerät aufgerufen und informiert wurden, dass wir uns einem Sperrgebiet nähern würden und dort nicht durchfahren dürften (sie hatten uns auf ihrem Radar bzw. AIS gesehen und identifizieren können). Wir mussten wohl oder übel direkt in die Gewitterzelle reinsteuern. Was dann über uns hereingebrochen ist, kann man nur als sintflutartigen Regen begleitet von Blitzen und lauten Donnerschlägen bezeichnen. Ich hatte aus Sicherheitsgründen noch schnell ein Tablet und ein GPS-Gerät in den Backofen (Faraday’scher Käfig) gelegt für den Fall, wenn wir von einem Blitz getroffen würden und damit die gesamte Bordelektrik ausfallen würde. Der ganze Spuk hat nur 10 bis 15 Minuten gedauert, aber in der Zeit waren wir völlig blind – man hat wegen des starken Regens schlichtweg nichts mehr gesehen, auch nicht auf dem Radar. Um nirgendwo reinzufahren, habe ich das Boot aufgestoppt und abgewartet. Als der Spuk vorbei war, kam der Wind und mit ihm eine eklig kurze Welle. Die folgenden 12 Stunden liefen wir nur mit 2 bis 3 Knoten, weil wir ständig durch die Wellen aufgestoppt wurden. Am nächsten Tag kamen wir gegen Mittag ziemlich erschöpft in Dunkerque in Frankreich an. Cynthia hat das Ganze mit Humor genommen und gemeint „Wir nehmen das Anlegebier wie James Bond seinen Martini – geschüttelt und nicht gerührt!“









Wir blieben fast drei Tage in Dunkerque im Hafen. Einerseits, weil wir uns erholen wollten und andererseits, weil der vorhergesagte Starkwind auch wirklich sein Wort gehalten hat.

Als wir durch den Ort gingen, hat es uns manchmal fast vom Wind umgehauen.

So gesehen war es genau die richtige Entscheidung schon am Anfang soviel Distanz wie möglich zurückzulegen. Diese Taktik haben wir auch für den Rest der Reise durchgezogen und sind in einem Tagestörn und zwei weiteren Nachtschlägen über Dieppe und Cherbourg nach l’Aber Wrac’h gesegelt. Wobei gesegelt nicht ganz der richtige Ausdruck ist, denn wegen den mehrheitlich sehr schwachen Winden haben wir fast die ganze Strecke unter Motor gemacht. Aber das habe ich von Anfang an vermutet, denn mit RARE BREED gegenan zu segeln ist wahrlich kein Vergnügen. Die Zeit, auf den Ostwind zu warten hatten wir einfach nicht, dann schon lieber bei schwachem Wind unter Maschine zum Ziel kommen.

Dieppe war ein nettes Städtchen und hatte vor allem einen sehr eindrücklichen Tidenhub von fast 6 Metern. Auch der Markt war riesig und hat sich durch die ganze Altstadt gezogen.







Der Nachtschlag von Dieppe nach Cherbourg war ein Traum! Die See war spiegelblank, der Sonnenuntergang in den schönsten Farben und als uns danach auch noch Delfine für ein paar Minuten begleitet haben, war es schon fast wie in einem kitschigen Film. Wegen den Strömen liefen wir manchmal mit 10 Knoten über Grund, aber später dafür nur mit 3 bis 4 Knoten.






Um nicht mitten in der Nacht in Cherbourg anzukommen, haben wir schon früh angefangen „zu bremsen“. Jedoch war der mitlaufende Strom so stark, dass wir auch so viel zu schnell waren. Die letzten Stunden vor Sonnenaufgang steuerten wir nach SSE (160°), aber über Grund ging es nach WNW (280°). Die Strömungen hier sind schon extrem eindrücklich.

Cherbourg hat uns eigentlich gar nicht gefallen. Ein riesiger Hafen und eine Stadt, die wenig Liebliches an sich hatte. Dass Sonntag war, hat natürlich dazu beigetragen, dass alles wie ausgestorben war. Also sind wir bei sehr schlechten Sichtverhältnissen am nächsten Vormittag mit ablaufendem Wasser ausgelaufen. So lief der Strom mit und hat uns regelrecht ums Cap de Hague rumgespült. Weil es so gut lief, haben wir spontan den Weg zwischen Alderney und Guernsey genommen, ein Gebiet, welches für seine starken Strömungen bekannt ist. Die hatten wir! Mit 7 Knoten mitlaufendem Strom wird der schwache Wind natürlich stärker und so konnten wir sogar mit 10 Knoten segeln. Das heisst, wir sind eigentlich nur mit 3 Knoten durchs Wasser gesegelt, aber über Grund wurden es mit dem Strom 10 Knoten. Bei solch starken Gezeitenströmen entsteht eine sehr aufgewühlte See, sog. „Races“. Bei Wind von 5 Beaufort (frische Brise mit 29 bis 38 km/h) oder mehr wird es regelrecht gefährlich. Bei den schwachen Winden die wir hatten, war es nur eindrücklich, wie das Wasser gekocht hat und sich plötzlich Wirbel gebildet haben die spürbar am Boot zerrten.

Später in der Nacht sind wir über die Untiefe „Banc des Langoustiers“ gefahren. Vom Tiefgang her absolut kein Problem, aber die Untiefe hatte ihren Namen wohl nicht umsonst, denn es wimmelte nur so von Fischerbooten, die andauernd ihren Kurs änderten. Cynthias Nachtwache artete regelrecht in Stress aus und glich einem Katz- und Mausspiel.
Am nächsten Vormittag liefen wir – mit kräftigem quersetzendem Strom in die Einfahrt von l’Aber Wrac’h. Die Wellen haben sich an den Untiefen rechts und links von der Zufahrt gebrochen und wir haben uns peinlichst genau an das schmale und verwinkelte betonnte Fahrwasser gehalten. Ein Motorausfall wäre in der Situation sehr schnell sehr unangenehm geworden. Das sind Momente, in denen ich um die beiden Maschinen auf RARE BREED sehr froh bin.

Nach nur 9 Tagen und 511 Seemeilen zurückgelegter Distanz waren wir am Ziel des Törns angelangt. Es waren anstrengende, aber auch schöne Tage und Nächte gewesen. Wir waren beide stolz und glücklich, dass alles doch so gut gelaufen ist. Der Englische Kanal war bezwungen! Cynthia war eine sehr gute Crew und wir haben uns wirklich gut verstanden. Dass Cynthia ihr selbst gestecktes Ziel „Kein Törn ohne wenigstens einmal Baden“ nicht erreicht hat, lösen wir, indem sie auf jeden Fall nochmals mitsegeln wird – und das Mal hoffentlich ohne Zeitdruck und bei besseren Wetter- und Windverhältnissen – z. B. in der Karibik 😉

Die verbliebenen Tage von Cynthias Urlaub verbrachten wir mit einer Kombination aus Besorgungen erledigen und Ausflüge machen. Da l’Aber Wrac’h so ein kleines Örtchen ist, wo es nicht mal einen richtigen Lebensmittelladen gibt, war schnell klar, dass ein Mietauto her musste. Das bekamen wir von einem örtlichen Garagisten und es war die unkomplizierteste Automiete, die ich je erlebt habe. Bezahlung Bar auf die Hand. Handyfoto vom Fahrausweis und keinerlei Kreditkarten oder sonstige Identifikationsdaten nötig. Und das Auto könne ich statt wie bezahlt bis Sonntag-, auch erst am Montagabend hinstellen – sie hätten am Montag nämlich zu.

Mit dem Auto sind wir nach Brest und haben die kaputte Scheibe im Sprayhood (Verdeck) vom Segelmacher nachnähen lassen. Als ich deren riesige Halle gesehen habe, habe ich sie spontan gefragt, ob sie mir helfen würden, den Spinnacker in den Bergeschlauch einzufädeln, was sie gerne gemacht haben.

Auf dem Rückweg haben wir in einem riesigen Baumarkt Holz und anderes Material besorgt, welches ich für den Bau einer „Badeplattform“ unter dem Geräteträger für die Sonnenzellen verwenden wollte.
Daneben hat es noch für einen Ausflug zu einem Leuchtturm inkl. Wattwanderung und für einen Besuch im Oceanopolis in Brest gereicht, bevor ich Cynthia zum Flughafen gebracht habe.





Die To Do Liste für die Woche, die ich in l’Aber Wrac’h alleine verbringen sollte bis Biggi wieder kommt, war lang, sehr lang… RARE BREED würde sich für eine Woche wieder in eine Baustelle verwandeln.
Gastbeitrag von Cynthia:
«…und nach der Reise wurden sie getrennt voneinander befragt»…Nach diesem Motto Cynthia’s Bericht der Reise von Amsterdam nach L’Aber Wrac’h.
Es gibt gemütlichere Optionen, seine Sommerferien zu verbringen, als an Bord eines Katamarans auf der Reise von Amsterdam in die Bretagne. Ich bin mehrmals gefragt worden, warum ich mir das antue. Am Ende dann eine Aussage dazu. Aber wie kam es überhaupt dazu? Im Frühling habe ich Jan spontan angeboten, «mal mitzusegeln, falls er eine Hand brauche». Kurz darauf hat er sich tatsächlich gemeldet, und nachdem klar ist, dass An- und Rückreise quarantänefrei möglich ist, und ich im Juli auch freinehmen kann, steht dem nichts im Wege. Aber ich muss schon zugeben: so ganz genau habe ich nicht gewusst, worauf ich mich einlasse: mehr als 500 Meilen, mehrheitlich mit Wind auf die Nase (bei einem Kat gibt es gemütlicheres), viel Fähr- und Frachtverkehr, Nachtschläge… und nur zu zweit an Bord. Aber: Augen zu und durch!
Jan und ich treffen uns am Flughafen in Amsterdam. Biggi hat kurz vorher die Heimreise angetreten. Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Dass «Amsterdam-Z» nicht für Amsterdam Centraal steht und nicht jeder Zug mit der Station «Centraal» in der Destination auch nach Amsterdam-Centraal fährt, finden wir dann auch heraus und schaffen wir es doch noch in den Hafen. Hoffentlich sind die Navikenntnisse auf See besser! Bereits am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe heisst es: «Leinen los». Wasser bunkern und ab in Richtung Westen. Die Schleuse in IJmuiden ist problemlos. Ich denke, um mehr als 30 Zentimeter werden wir nicht angehoben. Und dann sind wir im Ärmelkanal. Der Tag ist gemütlich, ich lerne Rare Breed etwas kennen und wir bereiten uns auf den ersten Nachtschlag vor. In Dreistundenschichten werden wir durch die Nacht motoren. Zum Glück ist um diese Jahreszeit und so weit im Norden die völlige Dunkelheit nicht lang. Ich bin dankbar für das AIS an Bord. Dank diesem Gerät können wir viel früher orten, woher ein Schiff kommt, welchen Kurs es fährt und ob wir allenfalls auf Kollisionskurs sind. Ich stelle nämlich fest: mit den Wellen und dem Fernglas in der Nacht die Positionslichter eines Schiffes wirklich bestimmen zu können, ist eine Herausforderung. Und Lichter sind viele zu sehen! Die Windparks sind beleuchtet und blinken rot und weiss, wie an einer Chilbi. Dazu gilt, dass wir uns in einem stark befahrenen Gebiet bewegen und uns ans Fahrwasser und an die Betonnung halten müssen. Immer wieder stecke ich den Kopf kurz aus dem Windschatten des Cockpits, um einen Blick nach vorne zu werfen und die nächste Tonne reell und nicht nur auf dem iPad zu suchen. Das Problem ist: mit dem Wind und der Gischt ist meine Brille im Nu salzverkrustet, was das Sehen nicht erleichtert. Um zwei Uhr nachts ist meine Schicht vorbei und ich lege mich für drei Stunden in die Koje. Das aufziehende Gewitter, und dass Jan über Funk aufgefordert wird, den Kurs wegen eines Windparks zu ändern, bekomme ich nur halbwegs mit. Ab fünf bin ich dann wieder an Deck, aber es wird schon dämmerig, und die anderen Schiffe sind wieder mehr als Positionslichter am Horizont. Gegen Mittag laufen wir in Dünkirchen ein. Bienvenue in «Froonkreisch»!
Drei Nächte bleiben wir in Dünkirchen, und lassen den heftigen Wind (mit Böen von über 30 Knoten im geschützten Hafen!) vorbeiziehen. Wir absolvieren ein kleines Touristenprogramm. Das Museum zur Operation Dynamo der Alliierten im 2. Weltkrieg ist spannend, der Spaziergang der kilometerlangen Promenade entlang tut gut. Der Wind schiebt uns rasant, und auf dem Rückweg kämpfen wir entsprechend gegen an und müssen aufpassen, dass wir vom Sand nicht paniert werden. Komischerweise ist aber niemand am Baden, obwohl der Strand eigentlich hübsch wäre. Alle sitzen im Restaurant und essen Moules et Frites. Wir dann auch.

Wir verlassen die «Sch’tis» und machen uns weiter auf den Weg in Richtung Süden. Vorbei an Calais, durch viele Bojenfelder mit geankerten Riesenpötten. Kurzfristig können wir dann endlich auch einmal segeln. Aber leider ist das Vergnügen von kurzer Dauer. Trotzdem ist es entspannend, unterwegs zu sein, dem Funk auf Kanal 16 zuzuhören (besonders gefällt mir das British-English der Küstenwache von Dover) und auch die Küste der Normandie anzuschauen. Gegen Abend laufen wir in Dieppe ein. Die hübsche Altstadt sehen wir im ersten Moment allerdings gar nicht. Das Hafenbecken liegt etwa 10 Meter tiefer – nur die Mastspitzen schauen daraus hervor. Das ändert sich bei Hochwasser. Plötzlich sind wir auf Promenadenhöhe – 6.5 Meter höher. Ich bin froh, in der heutigen Zeit zu segeln: Die ganzen Gezeiten- und Stromberechnungen ohne Navionics würden mich überfordern. Sehr hilfreich ist es auch, ständig ein Handy dabei zu haben. Wir fotografieren jeweils die Zugangscodes für den Steg und die Sanitäranlagen. Vor allem in Dieppe ist das eine hervorragende Idee: drei verschiedene Codes mit je 6 Ziffern und einem Buchstaben müssten wir uns sonst merken. Und in jedem Hafen beginnt das Spiel von vorne…

Nach zwei Tagen geht es weiter. Das Meer ist spiegelglatt. Ich sitze an Deck und schaue hinaus ins «grand-rien d’eau». Das Meer ist faszinierend, je nach Lichteinfall sieht es immer wieder anders aus. Rundherum ist stellenweise nichts als Himmel und Wasser zu sehen. Gelegentlich ein anderes Schiff, aber nachdem wir engste Stelle hinter uns gelassen haben, ist der Berufsverkehr hier nicht mehr prominent. Es sind Momente wie diese, welche mich immer wieder aufs Meer ziehen. Ein bisschen Wind zum Segeln wäre jetzt aber doch schön. Ohne Gerumpel «überfahren» wir um halb sechs dann den Nullmeridian. Ich passe den genauen Moment ab, damit ich den Sprung in der Anzeige von der östlichen in die westliche Hemisphäre dokumentieren kann. Geschafft!


Der Sonnenuntergang wird kitschig – unglaublich kitschig. Nur ganz wenige Wollen am Himmel, die Sonne versinkt blutrot im Meer und färbt die Wolken ein. Das Meer ist weiterhin spiegelglatt. Wir kommen kaum nach mit dem Fotografieren! Die Nacht ist ebenso traumhaft – der Sternenhimmel blinkt und glitzert. Hin und wieder gehört allerdings eines der Lichter auch zu einem Schiff. Der Strom schiebt uns kräftig – bei diesem Tempo kommen wir mitten in der Nacht in Cherbourg an, das wollen wir nicht. Wir «ziehen die Bremse an»…Mit dem Morgengrauen laufen wir in Cherbourg ein. Drei Vorhäfen sind zu durchfahren, und nach einem Zwischenstopp an einem Behelfspier bekommen wir am Ende aber doch in prominenter Lage direkt bei der Capitainerie einen Liegeplatz zugeteilt. Ein Stündchen legen wir uns aufs Ohr, und erholen uns. Cherbourg selber hat mich nicht so überzeugt. Vielleicht auch, weil Sonntag ist, und die Läden daher geschlossen sind. Der Hafen aber ist riesig, und gut ausgerüstet, die sanitären Anlagen sind ebenfalls tipp-topp. Und Pain au Chocolat findet man auch am Sonntag in Cherbourg!
Nur eine Nacht bleiben wir in Cherbourg. Nachdem Jan sich stundenlang mit den Unterlagen und Gezeitentabellen beschäftigt, den Revierführer konsultiert hat, und wir ja nun auch handfeste Erfahrungen mit der Strömung im Kanal gemacht haben, ist klar, dass wir dann auslaufen, wenn die Strömung uns hilft. Und das ist am nächsten Tag kurz vor Mittag der Fall, eine Stunde vor Hochwasser. Es ist diesig, Sicht gegen null. Im Laufe des Tages wird der Himmel aber heller, wir können tatsächlich auch segeln und sind nun CO2-neutral unterwegs. Wind und Strömung bringen uns vorwärts, die Sonne liefert die Energie für die Instrumente… Zwischen Alderney und Guernsey düsen wir durch den Kanal, kurz wird es kabbelig, aber das ist nicht weiter tragisch. Schade können wir auf den Kanalinseln nicht anlegen, ich hätte mich gerne dort umgesehen, das war schon immer eine Wunschdestination von mir. Ein langer Schlag liegt vor uns. Nach Möglichkeit wollen wir bis L’Aber Wrac’h durchziehen. Darum wechseln wir auch bald wieder in den Schichtmodus, damit sich immer einer von uns beiden ausruhen kann. Mit Schichtbeginn um 23 Uhr habe ich dann auch meine kleine Krise: es ist ruppig, überall am Horizont, und zwar rundherum (!) sind die Positionsleuchten von Fischern zu sehen. Es ist mir zu rau, um zusätzlich alle paar Minuten an den Navitisch zu gehen und auch noch das AIS zu beobachten, Jan springt hier ein. Wir ändern etwas den Kurs, um diese Langustenbank und ihre vielen Fischer weiträumiger zu umfahren, und das hilft definitiv. Krise vorbei. Es ist schweinekalt. Ferien im Juli, in Faserpelz und Ölzeug, mit Kappe und Halstuch… Aber trotzdem: ich geniesse es. In meiner zweiten Schicht schläft der Wind immer mehr ein, resp. er ändert die Richtung. Ich kann den gewünschten Kurs unter Segel nicht mehr halten. Und jetzt? Jan wecken? Da gibt es zwei Methoden: die sanfte und die harte Tour… Die harte wäre: ich starte den Motor… und ich kann sicher sein, der Skipper steht im Nullkommanichts an Deck. Oder sanfter: ich warne ihn erst… Das ist das was, ich tue. Natürlich könnte ich den Motor auch allein starten, aber eben, in meiner Erfahrung führen solche Manöver ebenso wie auch abrupte Kursänderungen unter Segel im Normalfall dazu, dass ein Skipper sofort wach und an Deck ist. Die Strömung ist nun klar gegen uns. Noch mit knapp 2 Knoten über Grund sind wir unterwegs. Die Wellen werden höher. Ist das bereits die berühmte Atlantikdünung? Ich denke schon. Die Wellen sind auf jeden Fall sehr lang. Je heller der Morgen wird, und je näher wir ans Ziel kommen, umso mehr Segelschiffe poppen plötzlich auf. Jetzt heisst es wieder richtig aufpassen. Wir sind unter Motor unterwegs, sie haben also Vorfahrt – um kaum je AIS. Mit den hohen Wellen sind auch Segler nicht immer sehr früh zu sehen. Die Einfahrt nach L’Aber Wrac’h übernehme ich. Lustige Name für die Tonnen haben sie hier: Le Grand Pot de Beurre ist nur einer davon… Nach 511 Meilen haben wir das Ziel erreicht. Ohne Zwischenfälle, ohne Blessuren, und ahead of time. Nun können wir uns noch etwas entspannen. Entspannt ist auch die Automiete. So problemlos habe ich das noch nie erlebt. Ein Foto von Jan’s Ausweis, etwas Cash übergeben, und der Peugeot «mit den blauen Ohren» gehört uns – geliefert bis zur Capitainerie. Sehr hilfreich ist das Navi. Die in bretonisch und französisch angeschriebenen Strassenschilder sind zahlreich, die Wege, Ein- und Ausfahrten aber ebenfalls. Ich war schon mehrmals in der Bretagne – und immer noch habe ich das Gefühl, Obelix mit seinem Hinkelstein auf dem Rücken kommt uns demnächst entgegen. Die Hortensien blühen traumhaft in allen Farben, ganze Alleen voll. Ein sensationeller Anblick! Vom «Quatorze Juillet» bekommen wir nicht viel mit. Vielleicht sind etwas mehr Leute als sonst am Crêpes essen, aber sonst? Das Wetter ist mittlerweile fantastisch, heiss und sonnig. Ich fange mir doch tatsächlich einen kleinen Sonnenbrand ein. Jan nutzt die Gelegenheit, ein Auto zur Verfügung zu haben, und wir klappern in diesen Tagen Handwerkerladen und Segelmacher ab. Etwas Moules et Frites dürfen auch nicht fehlen, und der Besuch im Oceanopolis in Brest gehört zum Programm.

Als Abschluss ein unterhaltsames Nachtessen, zusammen mit Sandra und Gottfried von der Moana, und am Samstag in aller Frühe muss ich los zum Flughafen. Die zwei Wochen sind schnell vorbei. Ich beneide Jan und Biggi um die Erfahrungen und Eindrücke, welche sie nun sammeln dürfen. Die Zeit auf der Rare Breed war körperlich anstrengend, mit den drei Nachtschlägen und der Wache jeweils für drei Stunden ganz allein an Deck. Aber: mental war die Reise erholsam. Warum tue ich mir dies an? Ich hätte zwei Wochen Ferien auch stressfreier verbringen können, aber ich finde, das Wort «stressfrei» ist relativ. Die Art, auf einem Segelschiff unterwegs zu sein, ist unschlagbar. Die Welt zieht im Schritttempo vorbei, die Seele mag mithalten. Das Schaukeln wiegt mich in den Schlaf, und frische Luft den ganzen Tag ist unschlagbar. Frisurentechnisch nicht ideal, das gebe ich zu…Am Ende eines Schlages warten neue Destinationen auf Entdeckung. Ich freue mich, dass ich Jan auf dieser Strecke habe begleiten können. Wir haben uns gut verstanden, unser Schoggi-Geschmack war komplementär, nicht mal das hat zu Problemen geführt! Gerne wieder!

Cynthia